Zwei Sammelbände zum Selbstverständnis spätmittelalterlicher Historiographie

Delle Donne, Fulvio; Garbini, Paolo; Zabbia, Marino (Hrsg.): Scrivere storia nel medioevo. Regolamentazione delle forme e delle pratiche nei secoli XII-XV. Rom 2021 : Viella, ISBN 9788833137193 356 S. € 38,00

Zabbia, Marino (Hrsg.): Storici per vocazione. Tra autobiografia e modelli letterari. Rom 2021 : Viella, ISBN 9788833137995 126 S. € 18,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Giuseppe Cusa, Universität Siegen

Eine Arbeitsgruppe des Langzeitprojekts „Archivio della Latinità Italiana del Medioevo“ (A.L.I.M.) befasst sich mit der spätmittelalterlichen Historiographie und verfolgt dabei die zunehmende Professionalisierung der Verfasser.1 In diesem weiteren Rahmen sind die beiden zu besprechenden Sammelbände zu verorten, die zwei Tagungen dokumentieren, von denen allerdings nur eine stattfinden konnte. Sie beschäftigen sich mit dem Selbstverständnis der Geschichtsschreiber, das etwa in Schreibanlässen, Sprache oder Quellenumgang gesucht und untersucht wird.

Das Büchlein Storici per vocazione umfasst sieben Beiträge, die neben weiteren auf einer im März 2020 angesetzten, jedoch abgesagten Konferenz hätten präsentiert werden sollen. Ausgehend vom Befund, dass so mancher Chronist des Trecento sein historiographisches Schaffen begründet, soll den Anlässen sowie dem etwaigen Einfluss von antiken wie rezenten Modellen und der Autobiographie nachgespürt werden – auf- und begrifflich gefasst wird dies als „vocazione“ (Bestimmung, Berufung). Der zeitliche Horizont beschränkt sich indes nicht auf das Spätmittelalter, sondern reicht vom 4. bis zum 18. Jahrhundert.

Giuseppe Zecchini ermittelt den Antrieb spätantiker christlicher Chronisten (S. 11–22), von denen viele die Notwendigkeit der brevitas und der Bewahrung der Erinnerung ebenso wie den Nutzen der Geschichte betonten. Manch einer widmete seine Schrift zunächst noch Freunden, zahlreich sind jedoch die Auftragswerke, die auf Bitten höherrangiger Geistlicher angefertigt wurden. Das Selbstverständnis volkssprachlicher Autor:innen der französischen Romania des 12./13. Jahrhunderts wie Raimon Vidal, Jean Bodel oder Marie de France äußerte sich u. a. darin, dass sie den literarischen Wert eines Werks betonten, wie Giuseppe Noto herausarbeitet (S. 23–33). Paolo Garbini fragt nach der „vocazione“ – verstanden als ausgeprägte Neigung („spiccata predisposizione“) – Boncompagnos da Signa, und zwar vermittels der Bedeutung, die der für seine Wissbegier bekannte Rhetorikprofessor rumores (nicht nur Gerüchte, sondern allgemein Nachrichten) beimaß (S. 35–49).

Wie(so) man im Trecento Geschichtsschreiber wurde, fokussiert Marino Zabbia (S. 51–66). Auf Überlegungen zu Autobiographie und Glaubwürdigkeit in der städtischen Historiographie folgt eine Betrachtung von zwei Selbstaussagen treffenden Chronisten: Der Mailänder Dominikaner Galvano Fiamma und der Florentiner Kaufmann Giovanni Villani führen ein konkretes Movens an, der eine habe indes sein wohl in den 1330er-Jahren gereiftes Geschichtsinteresse zurückzudatieren, der andere eine zügig verfasste Schrift als langfristiges Projekt darzustellen versucht. Giorgio Vespignani illustriert unter besonderer Berücksichtigung von Lorenzo de Monacis und Antonio Morosini, dass in der Venezianer Chronistik ab der Mitte des 15. Jahrhunderts eine Mythisierung der Serenissima vorangetrieben wurde, Autoren dabei aber in den Hintergrund rückten und entsprechend wenig über sich preisgaben (S. 67–82). Das neue Selbstverständnis der Humanisten Leonardo Bruni, Lorenzo Valla und Flavio Biondo erhellt Fulvio Delle Donne (S. 83–100), der den Einfluss des Thukydides auf ihre methodischen Reflexionen aufzeigt. Franco Aratos Ausführungen zu italienischen Literaturgeschichten des 16.–18. Jahrhunderts (S. 101–111) beschließen den Band.

Der zweite Sammelband Scrivere storia nel medioevo fächert 19 Beiträge in drei Sektionen auf und setzt zunächst bei einem ähnlichen Aspekt wie die eben besprochenen Tagungsakten an, und zwar beim Bewusstsein um das eigene historiographische Tun („Forme di consapevolezza autoriale“). Den Einstieg – zugleich die Brücke zur anderen Veröffentlichung – unternimmt Fulvio Delle Donne (S. 13–28), der anhand der Eigenbezeichnungen, der Wahl der Sprache und des Berichtsgegenstands das Selbstverständnis von Chronisten des 12.–15. Jahrhunderts herausarbeitet und bei Flavio Biondo und Lorenzo Valla, die Quellenrecherche und -umgang reflektieren, ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihr historiographisches Schaffen registriert.

Enrico Faini ist auf der Suche nach der Geisteshaltung („attitudine mentale“) des Tolosanus von Faenza, der Anachronismen in seiner Vergangenheitsgeschichte mit Blick auf politische Institutionen, nicht jedoch für die Gesellschaft (populus) vermied (S. 29–44). Federica Favero zeichnet nach, wie Galvano Fiamma unter Rückgriff auf ein anwachsendes Quellenkorpus die Gründung und das Alter Mailands nicht nur wiederholt, sondern zunehmend ausführlicher sowie argumentativ und methodisch differenzierter behandelte (S. 45–61). Die Prosageschichtsschreibung Albertino Mussatos und Ferreto de’ Ferretis thematisiert Rino Modonutti (S. 63–78). Mussato habe sich in Parallele zu Livius und Cicero gesehen, Ferreto hingegen Geschichte nicht als Politik begriffen (weshalb er eine politische Reflexion von Begriffen vermissen lasse) und einen besonderen Wert auf klassische Sprache gelegt.

Zwei Beiträge widmen sich der Pisaner Geschichtsschreibung: Alberto Cotza erörtert die historiographischen Experimente und Wandlungen des 11.–12. Jahrhunderts und konstatiert, dass es nicht die eine, sondern divergierende städtische Erinnerungen gegeben habe (S. 79–95); zu einem ähnlichen Schluss gelangt Cecilia Iannella für die volkssprachigen Stadtgeschichten des 13. bis frühen 15. Jahrhunderts (S. 97–112). Ein großes Korpus, nämlich knapp 60 im Zeitraum 1275–1424 entstandene volkssprachliche Chroniken, prüft Davide Cappi hinsichtlich „auktorialer Strategien“ anhand der Selbstbenennungen, Sprache, Struktur und Zitationen (S. 113–131). Die häufig von anonym gebliebenen Autoren verfassten Werke seien etwa selten rhetorisch anspruchsvoll, ihr (Miss-)Erfolg rühre eher von ihren Inhalten und ihrer Ideologie her.

Wie Geschichtsschreiber mit ihren Quellen umgingen, wird für einzelne Geschichtswerke sowie historische Sammelhandschriften im zweiten Abschnitt behandelt („Forme di uso delle fonti“). Marino Zabbia unterzieht zwei süditalienische Schriften, das Chronicon Siculum und die Cronaca di Partenope, einer eingehenden Analyse (S. 135–152), fächert die jeweiligen Segmente auf und macht eine gemeinsame, verlorene Vorlage plausibel. Auch habe der Kompilator von Vatikan, BAV, Ott. lat. 2940, in dem u. a. das Chronicon steht, auf die Überlieferung der Neapolitaner Stadtaristokratie zurückgegriffen. Jakub Kujawiński vergleicht aus der Masse süditalienischer Miszellaneen drei Kodizes aus der Anjou-Zeit: Paris, BnF, Fr. 688; Vatikan, BAV, Vat. lat. 5001; Neapel, BN, VIII C 9 (S. 153–169). Betrachtet werden Entstehungs- und Nutzungskontexte, Präsenz der Kopisten (etwa in Kommentaren oder Paratexten) und Komposition, wobei unterschieden wird zwischen „miscellanea primaria“ und „miscellanea secondaria“, also zwischen der erstmaligen und der Kopie einer älteren Zusammenstellung.

Marek Thue Kretschmer wertet die mise en texte des Überlieferungsträgers Vatikan, BAV, Vat. lat. 1984 aus (S. 185–200). Eingehend untersucht sie die Marginalien in dieser Sammelhandschrift, die u. a. die Historia Romana des Paulus Diaconus enthält. Der Kodex verdeutliche, wie Geschichte (um)geschrieben wurde, indem man Texte teilte, veränderte oder neu anordnete. Sara Crea beleuchtet das Vorgehen des Bologneser Dominikaners Francesco Pipino, der nicht passiv kompilierte, sondern bewusst dieser oder jener Vorlage folgte, per Randkommentar intervenierte oder unabhängig formulierte, was er dem Leser qua Verweis (actor) kenntlich machte (S. 171–184). Der aragonesische Chronist Jerónimo Zurita wiederum, offizieller Chronist der Krone, recherchierte und kopierte in Archiven dokumentarisches Material, das er ausgiebig nutzte, dabei aber bisweilen auf Schwierigkeiten gestoßen sei, eine flüssige Erzählung abzufassen, wie Francisco Bautista darlegt (S. 201–218).

Das dritte Segment diskutiert diverse Aspekte der Sprache („Forme della parola“). Paolo Garbini hält fest, dass die drei Benediktiner Robert von Reims, Balderich von Bourgeuil und Guibert von Nogent ihre Werke im frühen 11. Jahrhundert verfassten, weil sie der Gesta Francorum rhetorische Schwächen attestierten (S. 221–235). Benoît Grévin bemisst den Einfluss der ars dictaminis auf süditalienische Prosachroniken des 13. Jahrhunderts, was sich einzig an der Nutzung des cursus rythmicus festmachen lasse (S. 237–254); so schließt er etwa, dass der erste Teil der Chronik des Pseudo-Jamsilla nicht von Nicola da Rocca, sondern wohl von einem literarisch gebildeten Gefolgsmann (aber keinem Hofnotar) des Staufers Manfred stamme.

Geschichtsdichtungen, die den Krieg zwischen Venedig und Ferrara von 1309 bzw. zwischen der Markusrepublik und den Skaligern der späten 1330er-Jahre zum Thema haben, bespricht Marco Petoletti (S. 255–270). Das Werk De victoria Ferariensium contra Venetos weise viele klassische Anklänge, eine Giacomo Piacentino zugeschriebene Schrift zugleich mittelalterliche Bezüge auf, das lateinische Epos Liber Marchiane ruine wiederum sei noch nicht vom humanistischen Klassizismus beeinflusst. Die narrativen Funktionen und stilistischen Unterschiede von in Florentiner Stadtgeschichten des 13./14. Jahrhunderts verzeichneten Reden beleuchtet Carole Mabboux (S. 271–285), die eine Entwicklung zu höherer Oralität und Spontanität sowie die Wirkung von dokumentarischer Praxis und Volkssprache ausmacht.

Chiara de Caprio erkennt in Autor, Adressaten, Verhältnis vom Kodex zum Text, Konzeption und Konstruktion des Werks entscheidende Faktoren auf den Stil volkssprachlicher Chroniken der Toskana und Süditaliens (S. 287–304). Eine Synthese der sizilianischen Geschichtsschreibung des 14./15. Jahrhunderts liefert Pietro Colletta (S. 305–319). Stil und Sprache der im späten Quattrocento im Auftrag Matthias Corvinus’ von Antonio Bonfini verfassten ungarischen Geschichte analysiert Martina Pavoni (S. 321–336).

Die ausnahmslos lesenswerten Beiträge beider Bände verdeutlichen, dass die Historiographiegeschichte noch lange nicht ausgeforscht ist. Storici per vocazione wirkt indes – wohl auch den erschwerten Umständen seiner Entstehung geschuldet – wie ein Torso, denn die Aufsätze fügen sich nicht zu einem kohärenten Ganzen. Die „Berufung/Bestimmung“ stellt – für den weiten Betrachtungszeitraum – womöglich keine allzu geeignete Vergleichskategorie, zumal einen nicht allzu leicht nachweisbaren Gegenstand dar. Und auch die Rubrik „consapevolezza autoriale“ in Scrivere storia nel medioevo vermag nicht restlos zu überzeugen, da recht viel darunter subsumiert wird. Zudem ließe sich der Untertitel Regolamentazione delle forme e delle pratiche nei secoli XII-XV (Reglementierung der Formen und Praktiken) hinterfragen, zeigen die Beiträge doch jenseits der Konventionen, Tendenzen und Gemeinsamkeiten eindrucksvoll die individuellen Dispositionen und Situationen der Geschichtsschreiber sowie die vielfältigen Ausformungen ihrer Schriften auf.

Anmerkung:
1 Das seit den 1990-Jahren laufende Vorhaben erfasst zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert auf der Apenninenhalbinsel entstandene Texte und stellt deren Editionen online zur freien Verfügung, siehe http://alim.unisi.it/ (30.06.2023). Zwei weitere dem Thema gewidmete OA-Bände sind aus dem Projekt hervorgegangen: Fulvio Delle Donne (Hrsg.), In presenza dell’autore. L’autorappresentazione come evoluzione della storiografia professionale tra basso Medioevo e Umanesimo (Testi. Antichità, Medioevo e Umanesimo 1), Neapel 2018; Marino Zabbia (Hrsg.), Tra storiografia e retorica. Prospettive nel basso medioevo italiano, in: Reti medievali. Rivista 19,1 (2018), S. 547–625.

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